Martinus: Logik, Kap. 5.

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5. Kapitel

Die Menschen verurteilen ohne logische Begründung

Wie wir aus dem Vorangehenden gesehen haben, besteht das tägliche Leben aus einer Mannigfaltigkeit verschiedener Auffassungen vom Dasein, aus einer Menge widersprüchlicher Erklärungen über den Sinn des Lebens. Kinder, die in diesem Milieu erzogen werden, Menschen, die von klein auf daran gewöhnt sind, alle diese widersprüchlichen Erklärungen zu sehen, woran sollen sie glauben? – Wem sollen sie sich anschließen? –
      Ist es erstaunlich, dass die Welt voll von Millionen von Menschen ist, die alle, bewusst oder unbewusst, mit in den Ruf einstimmen: "was muss ich tun, um selig zu werden?", und dass es auch Menschen gibt, die in Bezug auf den Sinn des Lebens an überhaupt nichts mehr glauben können? –
      Ist es so merkwürdig, dass es Menschen gibt, die in jedem neu auftauchenden Reformator einen Schwindler sehen, die jeden religiösen Zusammenschluss als Zentrum für Fanatismus, Humbug und Betrug, für wirtschaftliche Bereicherung, für Ausnutzung der Gutgläubigkeit ansehen? –
      Ist es verwunderlich, dass viele Menschen glauben, der Verfasser dieses Buches sei ein neuer Fanatiker, dass viele Menschen meine Vorträge mit der allergrößten Skepsis aufnehmen, ja, dass ich sogar von gewissen Leuten, die weder genügend Liebe noch Verstand haben, um meiner Arbeit folgen zu können, geradezu von vornherein ohne jegliches Beweismaterial oder ohne Grundlage als "ein neu aufgetauchter Schwindler und Betrüger" bezeichnet worden bin? –
      Aber jeden religiösen oder geistigen Reformator, jedes Medium, jeden psychisch begabten Menschen ohne jegliches Beweismaterial als Schwindler oder Betrüger zu bezeichnen, und dies lediglich aus den Grunde, weil es andere Personen gibt, die das religiöse und psychische Prinzip als Vorwand für ihre betrügerischen Tendenzen oder für ihre unredlichen materiellen Absichten benutzt haben, das hat ja überhaupt nichts mit Logik zu tun und entbehrt jeder Gerechtigkeit.
      Die vielen sich im täglichen Leben geltend machenden Verhältnisse bilden somit innerhalb eines gewissen Gebietes keinen besonderen Anreiz für die Förderung von Logik oder Gerechtigkeit. Sie bringen die Menschen dazu, Urteile zu äußern, die nicht auf Tatsachen beruhen, und Gedankengebäude aufzuführen, die nicht vom Verstand nachgeprüft und geleitet, sondern von ganz anderen seelischen Momenten beherrscht werden. Ja, sogar selbst die eingeschworenen Vertreter des Denkens, die "Wissenschaftler", handeln nicht immer nach einer beweisbaren Logik oder nach vorausgehender Gedankenstabilisierung. Ich habe Beispiele erlebt, dass Menschen, die sonst der intellektuellen Klasse zuzurechnen sind, es von vornherein, ohne jede erweisliche Grundlage, sondern allein mit der Begründung, "es sei ein Kreuz auf dem Umschlag", sehr bestimmt ablehnten, das "Livets Bog" zu lesen oder eine nähere Untersuchung seines Inhalts vorzunehmen.
      Dass auf dem Umschlag dieses Buches ein dem Kreuze ähnliches Symbol steht, war für diese Menschen Grund genug, es für unwürdigen Lesestoff zu halten. Sie haben offenbar gemeint, dass mit diesem Symbol die gewöhnlichen, mit dem Kreuze verbundenen, aber bei vielen verhassten religiösen Dogmen und Behauptungen verknüpft seien. Aber jeder, der das Symbol auf dem Umschlag des "Livets Bog" kennt und den Inhalt dieses Buches studiert hat, weiß, wie gedankenlos und unbegründet eine solche Motivierung ist und wie sich ihr Urheber damit als unwissenschaftlich zu erkennen gibt.
      Dass in einem dem Kreuze ähnelnden Symbol andere Dinge liegen können als eine Sammlung veralteter religiöser Behauptungen und Dogmen, dass unter dem ewigen Zeichen dieser religiösen Behauptungen und Dogmen eine wirkliche Wissenschaft, ein ganz neues mathematisch unterbautes Weltbild, ein Beweis für die Unvergänglichkeit des Lebens oder für die Unsterblichkeit des Individuums existieren kann, dass dieses in einer zusammenhängenden Denkreihe der Logik und der Tatsachen jedem fortgeschrittenen und klaren Verstand zugänglich gemacht werden kann, dies war die Tatsache, welche die Wesen, die das Kreuz hassen, ignorierten, als sie von vornherein und ohne gewissenhafte Prüfung ihren Standpunkt einnahmen.
      Aber ein Standpunkt, den man nicht untersucht hat, eine Erklärung, die man nicht durch Wissen begründen kann, ist das Gleiche wie ein Bericht, der "aus der Luft gegriffen" ist. Und es gereicht "intellektuellen" Menschen nicht gerade zum Lobe, ausgerechnet solche Standpunkte einzunehmen.
      Aber wie viele Menschen handeln nicht gerade heute nach Behauptungen, die "direkt aus der Luft gegriffen sind"? – Wie viele Menschen gibt es nicht heute, die ihre Handlungen durch Snobismus, Eitelkeit, Eifersucht, Hass, Begierden, Unduldsamkeit usw. ohne Rücksicht auf Logik oder Vernunft leiten lassen? –
      Diktieren nicht die Presse, die öffentliche Meinung, Sitten und Gebräuche, die Mode das, was man "darf", was "erlaubt" ist, was "sich gehört" in weit größerem Ausmaß die Handlungen des Geschöpfes als sein logischer Verstand? – Ist nicht bei den meisten die Furcht davor, öffentlich angeprangert zu werden, das Entsetzen davor, Ehre, Position und Stellung zu verlieren, so groß, dass sie gern die Rücksicht auf oder die Treue zur Logik, zur Wahrheit opfern, wenn dies nötig wird, um sich vor diesen Dingen zu schützen? – Ja! Die Allgemeinheit geht in der Herde. Die Meinung der Herde ist Gesetz. Sie ist die "autorisierte" Moral und Gerechtigkeit, ganz unabhängig davon, welcher Entwicklungsstufe sie angehört, ganz unabhängig davon, wie unlogisch sie auch sein mag. Gegen diese Meinung anzugehen erfordert viel Mut, Klugheit und Geistesgegenwart.
      Der Weg zu wirklicher Wahrheit, zu Gerechtigkeit und zu Wissen geht also durch das Fegefeuer der öffentlichen Meinung, durch die von ihr verursachte Kreuzigung. Sie verachtet alles, was die derzeit öffentlich anerkannte Autorität nicht empfohlen hat, sie weist von vornherein alles ab und behandelt alles mit Geringschätzung, was keinen akademisch wissenschaftlichen Stempel hat. Ihre Ironie, ihr Misstrauen, ihren Klatsch und ihre Spottsucht muss jeder Wahrheitssucher überwinden; dagegen muss er sich immun machen, bevor er die wirkliche Logik erkennen kann, bevor er anfangen kann, das wirkliche Leben zu erleben.
      Der Weg zur wirklichen Wahrheit, der Weg zum Verständnis des wirklichen Sinns des Lebens ist somit von vornherein von der Gemeinschaft selbst unermesslich schwer gemacht worden. Große Hindernisse sind vor dem Suchenden aufgetürmt. In den primitiven Ebenen des Daseins ruht überall und auf allen der Nebel der Illusion.

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