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22. Kapitel

Der Erdenmensch ist in großem Maße der Feind des Lebens  Unsere Begegnung mit dem Ereignis im Urwald war also, wie das Voranstehende zeigt, in Wirklichkeit nur eine Begegnung mit unserem eigenen inneren Lebensprinzip, mit unserer eigenen inneren Lebensgrundlage, die in einem äußerst verstärkten, konzentrierten Bild in den zwei äußersten Polen des Kontrastverhältnisses, Leben und Tod, dargestellt wurde. Gibt nicht dasselbe kontrastreiche Bild in unserem eigenen Fleisch und Blut unserem Puls das Tempo, bestimmt es nicht unsere Atemtätigkeit, gibt es uns nicht die Fähigkeit, unseren Gedanken zu steuern, unsere Hand zu führen und unseren Fuß zu leiten? – Wie sollten wir denn sonst die Wärme des Blutes merken, den Genuss der frischen Luft erleben? – Wie sollten wir sonst imstande sein, unser tägliches Brot zu verdienen, unsere Kleider zu schaffen und überhaupt "uns die Erde untertan" zu machen? – Und sind diese Funktionen nicht alle identisch mit einer Lebensbedingung? – Und sind sie nicht alle ohne Ausnahme identisch mit einer Überwindung von Kraft? –
      Aber die Überwindung von Kraft bedeutet ja Sieg und Niederlage, Sieger und Besiegte, Unterdrücker und Unterdrückte, Zerstörung und Aufbau usw. Und bewirkt nicht eben dieser Umstand, dass wir nicht einmal eine Mahlzeit essen, ein Glas Wasser trinken können, ohne dass dies Überwindung von etwas anderem und damit Untergang von etwas anderem bedeutet? Ja, selbst ein freundliches Lächeln, unsere zarteste Liebkosung oder unser kleinster Seufzer kann nur aufgrund von Kampf geäußert werden, bedeutet Untergang von etwas, was ein Hindernis für das Entstehen des Lächelns oder der Liebkosung war.
      Eine Liebkosung ist also ein Sieg, ein Lächeln ist ein Sieg für seinen Schöpfer. Ist denn aber nicht alles, was im Dasein vorkommt, somit Sieg? – Was ist eine Erfindung, was ist ein Wort, was ist ein Gedanke anderes als Sieg? – Kann man überhaupt eine einzige Gegebenheit im Dasein nennen, die kein Sieg ist? Selbst die primitivsten Geräte wie auch die kompliziertesten technischen Apparate sind Siege. Der Löffel, mit dem wir essen, wie auch der Eilzug oder das Auto, mit denen wir fahren, sind Siegestrophäen. Die blaue Kornblume sowohl wie der blaue Himmel, der kleine Bach wie der große Fluss, der kleine Regentropfen wie der große Ozean, die kleine Zündholzflamme wie die große Sonne oder die gigantischen Milchstraßensysteme können ja nur als gebundene Kraft existieren und sind also Siegestrophäen.
      Was sagt man zu unserer eigenen Willensauslösung, unserer Lebensäußerung, unserer eigenen Schöpfung? – Sind diese in Wirklichkeit nicht eine einzige große Wanderung von Sieg zu Sieg? – Sind nicht unser Erfahrungsmaterial, alle unsere Erinnerungen eine große Anhäufung von Siegestrophäen? – Ja, selbst die Erinnerungen an Niederlagen können nur als Ergebnisse der überwundenen Kraft bestehen und sind somit ihrer Analyse nach eine Manifestation von Sieg.
      Wenn aber alle erschaffenen Gegebenheiten im Dasein, gleichgültig, worauf wir unseren Blick richten oder was unser Ohr hört, in Wirklichkeit Ausdruck von Siegen, Siegestrophäen sind, wenn selbst der Todesschrei aus dem Urwald ein Maß überwundener Kraft darstellt und damit eine Siegestrophäe ist, wie auch alles, was wir überhaupt hervorzubringen vermögen, nur als Grade oder Maßeinheiten von überwundener Energie existieren kann, dann sind wir ja selbst alle in entsprechendem Maße "Sieger".
      Aber "Sieger" können nur auf der Grundlage von Unterdrückung existieren. Wir sind somit alle ohne Ausnahme, von den größten bis zu den kleinsten Wesen, Unterdrücker. Wenn wir aber Unterdrücker sind, dann sind wir ja mit dem Raubtier im Urwald verwandt. Unsere gesamte Lebensweise beruht auf demselben Prinzip wie die dieses Wesens. Wir überfallen und unterdrücken in jedem Bruchteil einer Sekunde in unserem Dasein andere Kräfte. Unser ganzes Leben ist ein einziger großer Überfall auf eine Menge der uns umgebenden Realitäten. Wir brechen ab, zerrütten, zerstören und zerschlagen unaufhörlich. Das ist unsere Lebensbedingung. Nichts kann aufgebaut werden ohne Abbruch; kein Sieg ohne Unterdrückung. Nichts kann ohne Überwindung erschaffen werden; keine Überwindung ohne Kampf. Das Leben ist also an sich ein Kampf, ein Schlachtfeld, ist ein Dschungeldickicht, das mit Wesen bevölkert ist, die töten, morden und zerstören. Die dunklen Wälder der Vergangenheit wachsen somit plötzlich um uns auf, schließen sich über unseren Häuptern. Unser eigenes Dasein wird identifiziert. Wir sind das überfallende Tier. Wir oder unsere Brüder erzwingen die Todesschreie unserer Opfer, wir erzwingen in unserer Umgebung die Schrecken und Schmerzen, die das Dasein für die anderen Wesen unsicher machen, die ihnen ihr Leben und ihre Gesundheit rauben. Der stinkende Geifer unserer Art in Form von Geiz, Hass, Neid, Unduldsamkeit und Falschheit fließt zwischen den Bäumen der Wälder umher, macht alle Wege und Pfade unbegehbar, bildet giftige Schlammpfützen und Moraste, in denen wir unsere Opfer fangen.
      Und nicht genug damit. Was sagt man zu der Raffinesse, zu der man diese giftige Natur entwickelt hat, diese Spezialität im Lügen, Ausplündern und Töten? – Die gewöhnlichen Krallen der Tiere sind schon längst übertrumpft, sind für den Erdenmenschen schon längst so veraltet und altmodisch wie die Steinbeile, Bogen und Pfeile seiner Vorväter. Die Unersättlichkeit dieser zerstörenden und tötenden Lust ist schon längst auf die höchsten Zinnen der Kulmination gestiegen. Was sagt man zu Maschinengewehren, automatischen Kanonen, die so und so viele Schüsse in der Minute abfeuern? – Und was hält man von den Geschossen, die oft nicht nur ein einzelnes Projektil bilden, sondern zu Bomben geformt sind, die aus einer ganzen Serie von anderen tötenden Projektilen zusammengesetzt sind, welche zur Auslösung gelangen, wenn das Muttergeschoß an seinem Ziel gesprengt wird, wodurch die Wirkung vervielfältigt wird? –
      Was hält man von den mächtigen Schlachtschiffen, schwimmenden Festungen, die von ihrem Platz draußen auf See gegen jede friedliche Küste der Erde "in Stellung" gebracht werden können und die in Zusammenarbeit mit Jagd- und Bombenflugzeugen, mit Panzerwagen Tod und Vernichtung über Städte und Dörfer bringen, alles dem Erdboden gleichmachen, im Laufe von Minuten alles zerstören können, was viele Jahrhunderte zu seinem Aufbau brauchte? –
      Oder was meint man von den Unterseebooten, in denen man, selbst unter dem Wasser verborgen, sich orientieren, sich heimtückisch an den "Feind" heranschleichen und große stolze Fahrzeuge mit kostbaren Ladungen von Nahrungsmitteln, Bekleidung und anderen Gebrauchsgegenständen in die Tiefe senden kann, wobei Tausende von Passagieren meuchlings ermordet werden? –
      Welches Ungeheuer in den Märchen oder in der Wirklichkeit kann sich in der Ausübung tierischer Tendenzen mit der hier beschriebenen erdenmenschlichen Leistung messen? –
      Gibt es einen Vogel in der Luft, einen Fisch im Wasser oder ein Tier auf der Erde, das bloß annäherungsweise einen ähnlichen Grad von Tod und Untergang, von Verstümmelung und Leiden, von Trauer, Not und Elend schaffen kann? – Gibt es ein Wesen, das in größerem Maße Anlagen und Fähigkeiten hat, die "Hölle" auf Erden auszulösen, als der Erdenmensch? – Hat man jemals gesehen, dass diese Mordtalente von den übrigen Wesen auf der Erde übertrumpft worden sind? –
      Der Erdenmensch ist also das größte Raubtier auf Erden. Er ist die Kulmination von allem, was finster, zerstörend und tötend ist. Er ist das Wesen, das auf der Erde die größte Fähigkeit hat, den Kontrast zur Liebe hervorzubringen; er ist in großem Maße selbst der Feind des Lebens. Die Begebenheiten im Urwald gehören nicht nur der Urzeit an. Wir haben sie in unserem Hause und unmittelbar vor unserer Tür. Sie existieren im Blut des Erdenmenschen, in seinem Gemüt und Denken, in seinem Blick, in seiner Hand, in seinem Fuß. Wir können das Raubtier in unserem Nächsten antreffen, können es sogar in unseren nächsten Angehörigen spüren; ja, die finstere Atmosphäre des Farnwaldes zerstört mit großer Leichtigkeit selbst eine so beschützende Festung wie die Liebe eines Vaters und einer Mutter, wie die Hingabe eines Geliebten, eines Sohnes, einer Tochter. Wir werden zuweilen von denen erdolcht, die wir am meisten liebten, und viele morden, verletzen und peinigen oft diejenigen, ohne die sie nicht leben zu können glauben.


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